Landen in Tiflis und rollen an einem alten Prachtbau aus der Sowjetzeit vorbei. Die russische Vergangenheit lässt grüßen, wie später immer wieder auf dem Weg zur Stadt, wandfüllende Mosaike,
farbenfroh, schwungvolle Metrostationen und herrischer Klassizismus für die Arbeiterklasse. Dazwischen Mega-Shopping Malls, so groß als wäre Tiflis längst zweistellig in der Einwohnerzahl und
gehörig viel Staatspathos aus den Nullerjahren. Der Schwung der Architektur, das Glas, die lichte Konstruktion, wie der neue Flughafen, der 2007 eröffnet hat. Ein großes Wollen ist da zu spüren.
Ein Mitmachen wollen mit jedem Wendy’s und McDonald’s. Dazwischen Art Decor und der heilige Georg mit dem Drachen, der golden glänzt. Aber er hat keine Chance gegen die Glitzertürme, die da
kommen. Real Estate a la Dubai und Saudi Arabien.
Aufwachen im Häusermeer von Saburtalo. Die fleckigen Wohnturme wirken nicht unmenschlich. Im Gegenteil. Die Bauten leben, weil ihre Bewohner sie weiterbauen. Dort ein Balkon, der angefügt wird,
da ein ganzes Stockwerk, das aufgeschichtet wird und dann noch eines und noch eines. Das ursprüngliche Haus wird zum gewaltigen Fundament. Was deutschen Statikern den Angstschweiß auf die Stirn
treiben würde, ist hier erprobter Alltag. Gut oder schlecht? So einfach ist das in Tiflis nicht. Was aber schnell klar wird: Die Stadtplanung entstammt hier noch aus der Wild Westmanier der
Neunzigerjahre. Grund und Boden wurde hier unter den Mächtigen verteilt und dann fingen die Träume der jeweils Herrschenden an zu wachsen. Unter Micheil Saakashvili was das etwa: eine – zumindest
für die Stadtbevölkerung - unnütze Brücke, die zu einem Park in Mondlandschaftmanier führt und heute hauptsächlich von arabischen Touristen und jungen Menschen benützt wird, die Bootstrips an die
arabischen Touristen verkaufen wollen. Zwei seltsame Mega-Röhren, deren einzige Funktion es ist, so groß zu sein, dass sie den kompletten Maßstab der Stadt sprengen, während sie im Inneren
langsam verstauben und ein kleines Vorhängeschloss genügt, um sie vor unliebsamen Besuchern zu schützen. Ein Justizpalast in Form von psychedelischen Pilzen, ein Präsidentenpalast, der Fosters
Reichstagskuppel imitiert und ebenfalls leer steht, weil ihn der politische Vorgänger errichtet hat – oder weil der, der hier alles kontrolliert, der georgische Milliardär Bidzina Iwanishvili ihn
braucht. So klar ist das hier alles nicht. Deutlich sichtbar dafür als Beweis seiner Machtposition ist Iwanishvilis Residenz. Hoch über der Stadt. Für den Megabau aus Glas und Stahl ließ er sich
extra ein Stück Botanischen Garten abtreten. Und es geht weiter: Unter dem so harmlos klingenden Logo „Panorama“ wird gerade ein Gewaltbau nach dem anderen hochgezogen lässt. 17-stöckige
Hotelanlage, Golfplatz, Businesscenter – die Insignien des internationalen Real Estate, so sinnlos, dass die Zerstörung der Natur und der so einzigartigen Stadtsilhouette von Tiflis noch
trauriger erscheint.
Vieles ist Raffgier, manches Faulheit oder auch die selbst gewählte Unmündigkeit der Bevölkerung, die so vieles über sich ergehen lässt, während sie liebevoll an ihren eigenen Balkonen und
Zwischengeschossen bastelt. Umso eindrucksvoller die Menschen, die dagegen kämpfen. Der sanfte Levan Kalandarishvili, der energisch wird, wenn es um den Maßstab geht, der hier überall gesprengt
wird, und der eine große Begeisterung für wahre architektonische Meister aus der Vergangenheit hegt, während heute so viele Ignoranten in der Stadtplanung arbeiten. Levan ist Architekt und
Denkmalschützer. Er kann „den lokalen Geruch eines Gebäudes“ wahrnehmen. Meistens dann, wenn wir an den windschiefen Häusern der Altstadt vorbeilaufen, deren Balkone sich gefährlich tief
Richtung Erde bewegen und tiefe Risse über die Fassade laufen. Die Häuser sind architektonisches Flickwerk. Mit den Holzbalkonen im Innenhof, die die unterschiedlichen Wohnungen miteinander
verbinden und zum öffentlichen Wohnzimmer werden, fein austariert, wer was darf, wann und wie laut. Handgeschnitzt erinnern die Balkone an Fächer, die für Kühle sorgen sollen. „Man kann nicht
alles erhalten“, sagt selbst Levan und strickt bedächtig seine Wörter mit den Händen. Doch wenn er dann sieht, wie die kunstvollen Eisengeländer sich ihrem Ende entgegen biegen, weil ihre
Bewohner keinen Wert in ihnen erkennen. Wenn er beobachten muss, wie Sanierung hier Abriss bis auf die Fassade bedeuten und dann alles in Pseudo-Vergangenheit wieder hochgezogen wird, so dick
bepinselt mit Pastellfarbe, dass noch der letzte Rest an Charme unter den Schichten verschwindet oder wenn er in ehemals herrschaftlichen Händlerhäusern bemerkt, wie Strom- und Gaskästen einfach
an die Wand geknallt werden, Eingangshallen von ihren jetzigen Bewohnern zugebaut werden und Kabel durch die Luft schweben, dann wird er wütend. „Sie sollten es wenigstens mit etwas Respekt
machen.“ Gerade hier in Tiflis, wo jede Häuserwand so viele Bauschichten hat, so viele Zeitebenen, wie „ein heftig gemischter Bazar“.
„Welche Vision für Tiflis? Es gibt hier keine Idee, es ist das Geld, was zählt.“ Surab Bakradse empfängt mit harten Worten an der Falkenstatue im Bäderviertel. Der Architekt und Stadtplaner hat
20 Jahre in Deutschland bei Bonn gearbeitet, weswegen er mit deutschem Bürokraten-Fachvokabular genauso sicher hantiert wie er einen durch Alt-Tiflis manövriert. „Abstandsflächen? Können Sie
vergessen“, hier gehe es nur darum, so viel und so hoch wie möglich zu bauen. Außerdem werde der Massentourismus als Ziel für alles ausgegeben. Weswegen es jetzt auch in der Altstadt fast nur
noch Softeisverkäufer und Weinverkostung gibt. Die Menschen wurden raussaniert. „Restaurierung möchte ich das nicht nennen“, sagt Surab, während er im Zickzack zum Botanischen Garten hochsteigt.
Die alten Häuser wurden als Musterprojekt zwischen 2003 und 2013 renoviert. Von den alten Bewohnern blieb wenig übrig. „Die Stadt versteht die Regierung als Materie aus Ziegelsteinen, nicht als
etwas, wo Menschen wohnen.“ Einzelne Touristen checken in Ferienwohnungen ein. Ein Blick durch Holzfenster genügt um zu sehen, dass hier das alltägliche Leben keinen Platz mehr hat. Doch Surab
hat Hoffnung. Das neue Baugesetzbuch, das seit Juni in Kraft getreten ist und an dem er mitgewirkt hat, hat zumindest den Begriff „städtebauliche Maßnahme“ drinstehen. Zwar nicht so, wie Surab
das wollte, aber immerhin. Besonders wichtig sei aber, dass der neue Oberbürgermeister um ein positives Stadtbild ringe. Mit nicht besonders viel Sachverstand – was will man schon von einem
ehemaligen Profifußballer erwarten – aber zumindest habe er verstanden, dass die Verkehrspolitik nicht so weitergehen kann wie bisher, was Hoffnung macht, denn der dickflüssige Verkehr
verstopft konstant die Straßen von Tiflis. Und dass Investoren sich nicht mehr alles erlauben können – zumindest, wenn nicht Iwanishvili dahinter steht. Der hat sich nicht nur vom Botanischen
Garten etwas abtreten lassen, um dort seine Fantasie-Hightech-Residenz zu bauen, sondern beplant den kompletten Bergkamm mit Glastürmen. Immobilienrausch könnte man das nennen. „Wenn man Tiflis
als Kulturlandschaft versteht, dürfte man dort überhaupt nichts bauen“, sagt Surab, während wir mit ihm den Tabori-Berg raufsteigen, an Wildblumen vorbei und an einem der vermutlich teuersten
Baugrundstücken der Stadt. Die jetzigen Besitzer haben Lichterghirlanden um die Terrasse gespannt, so wollten sie weitere Investoren anlocken. Als wäre das noch nötig. Oben, bei den scheuen
Mönchen, zeigt uns Surab, wie sich die Stadt zwischen die beiden Berge quetscht, all die seltsamen Riesenbauten der Nullerjahre mittendrin und an ihren beiden Enden, in weiter Ferne, die
Plattenbauten aus der Sowjetzeit. Über die Jahrzehnte hat sich die Stadt vom Fluss abgewendet. Nur die historischen Fotos zeigen noch wie innige die Beziehung mal war. „Die Zerstörung von Tiflis
hat schon früh begonnen,“ sagt Surab. Über die Jahrhunderte wurde die Stadt immer wieder zerstört. Alles, was man heute noch sieht, stammt frühestens aus dem 19. Jahrhundert. Der, der kam, wollte
alles neu. Nur jetzt ist es noch unübersichtlicher: „Sie zerstören alle Schichten.“ Die Straßenführung aus dem Mittelalter. Die Gründerzeithäuser, entweder indem sie sie verfallen lassen oder
totsanieren und natürlich auch die Gebäude aus den Sowjettagen. Vor allem die.
„Sollen wir vielleicht die ganze Rustaveli abreißen?“ fragt Nini Palavandishvili provokant im Vera-Park. Sie kämpft gegen die Abneigung der Bevölkerung gegenüber den Gebäuden aus der Sowjetzeit.
Weniger rationell sei die als emotional. Dabei gibt es zum Niederknien schöne Bauten aus der Zeit. Wie etwa den Schachpalast von 1974. „Mein aktuelles Kind“, sagt Nini, Stadtaktivistin und
Autorin, die in etwa so wild gestikuliert wie sie um gefährdete Häuser kämpft. Wir treffen sie im Park vor dem Gebäude. Sie muss lauter sprechen, als sie von dem Geschacher um die Stadt aus der
Vergangenheit erzählt. Wer sich was unter den Nagel riss. Wie die Politik nach dem Zusammenbruch nur eine Losung kannte: Verkaufen! Egal wer gerade an der Macht war. Und wie das meiste von den
Mächtigen gekauft wurde. So viel, dass heute kaum mehr etwas da ist. „Deswegen kämpfen wir ja um jedes Stück Land“, sagt Nini, nein schreit sie. Um ihren geliebten Schachpalast werden gerade im
Akkord Bäume gefällt. Das Schreien macht der jungen Frau nichts aus, das Signal des Bäumefällens schon. „Wenn irgendwo etwas gefällt wird, dauert es nicht lange und die nächste große Betonbox
steht hier.“ Gut fünf Jahre ist es her, dass es auch den Bewohner von Tiflis – „die erst demonstrieren, wenn man ihnen wirklich lange auf dem Fuß gestanden ist“ – zuviel wurde. Ein
österreichischer Investor wollte direkt an einem kleinen Park mitten in der Altstadt ein siebenstöckiges Hotel hochziehen. Die Proteste der Stadtbevölkerung dort – mitten im Winter, über Wochen –
„waren unser Gezi-Park“, so Nini. Die Demonstrationen haben gewirkt, erst kam der Fall vor Gericht, was einen sofortigen Baustopp bewirkte, nun hat der aktuelle Oberbürgermeister das Projekt an
diesem Ort vollends abgesagt. Ein kleiner, aber symbolisch großer Erfolg in dieser Stadt mit ihren so bauhungrigen Investoren.
Ninis aktuelles Kind ist eine Architektur der Transparenz und lichten Konstruktion, klar und doch in poetischer Weise nüchtern, schließlich ging es hier darum die meisterlichen Fähigkeiten im
Schachspielen, genauer im Schachspielen der georgischen Frauen zu feiern. Nona Gaprindashvili war die Beste unter ihnen. Und deswegen bekam sie diese lichte Konstruktion gewidmet, in der die
Krone als Symbol der Königin fortwährend auftaucht – wenn man genau hinguckt. Der Zustand des Gebäudes ist jämmerlich. Die beiden Hauptmieter – der Schachclub und der Bergsteigerverband – haben
das Gebäude untervermietet und die Untermieter, etwa ein Billardclub und ein Schach-TV – tun alles erdenkliche (und unerdenkliche) um die lichte Konstruktion, die unzähligen Details dieser
Architektur zu zerstören. Den umlaufenden Balkon unterbrechen, Fenster abdunkeln, Mamorsäulen überpinseln, Laminat auf Steinböden legen, Kleiderhaken in aufwendige Holzschnitzereien schrauben,
die Liste ist lang. Nini gibt trotzdem nicht auf. Erst gestern hat die Stadt zugestimmt und das Gebäude unter Denkmalschutz gestellt – als erstes überhaupt seit 12 Jahren und als eines von zwei
Gebäuden aus der Zeit. Mit Geld aus der Getty Foundation wird Nini nun den Schachpalast erforschen und dann Vorschläge machen, wie er fachgerecht zu sanieren ist. Ohne Macht, aber zumindest
mit dem Wohlwollen der Stadt.
„Wir sind Helden, auch wenn wir immer verlieren“, hatte Surab vorher gesagt. Zumindest das Immer kann er manchmal streichen.
Wir verlassen Tiflis in Gochas Landrover, langsam ein zweites Zuhause. Auf der Schnellstraße Richtung Gombori Pass wirft sich halb Georgien todesmutig in die Kurven. Natürlich sind die deutschen Nobelkarren die schlimmsten – offenbar weltweit ein gültiges Gesetz im Straßenverkehr – aber hier versuchen zumindest alle mitzumachen, teilzunehmen am Rennen nach vorne. Den Weg säumen große leerstehende Gebäude, die Schutzfolie ist noch an den Fensterrahmen zu sehen und doch sind sie schon wieder am Verstauben, und herrliche sowjetische Bushäuschen, jedes anders. Als es dörflicher wird, kommt ein Fantasiehaus nach dem anderen. Man baut hier mit dem, was man kriegen kann und vor allem baut man selbst. Do it yourself galt in Georgien schon lange bevor die Hipster aus dem Westen es für sich als Losung ausriefen. Erst wirkt die Umgebung wie eine ausgedorrte Mondlandschaft, aber als es hochgeht auf dem Gombori Pass wird sie zum Paradies. Wiesen wie es sie bei uns nur noch auf den Almen gibt, ein einziges Blumenmeer. Ab und zu stehen bunte Bienenstöcke mitten drin, ihre Imker verkaufen ihr Werk auf klapprigen Tischen am Wegesrand. 12 Kilometer vor Alvani geht es in der Kreisstadt Telavi mit unseren Einkäufen los. Meter für Meter werden Vorräte erworben, Brot und Nektarinen am Straßenrand, Pfirsiche und Melonen bis es in unserem Auto riecht wie in einer Bäckerei, die auch Obst verkauft. Die gewaltige Klosteranlage ist das erste, was wir von Alvani sehen. Himmelstürmend die Kathedrale Alaverdi, aber aus kleinen Steinen aufgeschichtet. Traurig schöne Fresken mit der Muttergottes im Zentrum. Die Mönche, die hier leben, haben den Ort in ihre eigene Gegenwart geführt. Mit Dresscode und kurz gestutztem Rasen, aber mit dem Licht, das hier durch die schmalen lang gezogene Fenster fällt wie seit dem 11. Jahrhundert. Ein Bier, nein zwei in dem einzigen Lokal in Alvani, was aber eigentlich mehr ein Kiosk ist, schräg gegenüber ein herrlicher Sowjetbau, ehemals Theater, heute Kulturzentrum, das wir umrunden auf der Suche nach einer Toilette. Offensichtlich wurde es vor Kurzem saniert, mit dem Geld einer japanischen Stiftung. Dem so konzentriert geometrischen Bau sieht man die Zuwendung kaum an, außer in dem Klohäuschen mit den schwarzen Marmorplatten nebenan, auf das eisern eine ältere Dame wacht, die führsorglich das Zeitungspapier in handliche Stücke geschnitten hat für die Gäste.
Auf nach Tuschtien! Straße möchte man es kaum nennen, mehr Schlaglöcher als Weg, der sich da zum Torgva Pass nach oben schraubt. Die wenigen Meter Asphalt wirken fast seltsam genauso wie
die vereinzelten Straßenschilder. Zu einer Seite fällt der Weg steil ab, hinab in Schluchten. Zur anderen Seite geht nach oben in den Urwald – zumindest sieht das hier so aus. Dichtes
Bäumemeer bis hoch zu den Kuppen, was den grünen Riesen der Kachetischen Bergen etwas sanftes gibt. Ab und zu kommt uns ein Allrad entgegen, Bergtouristen sitzen drin, manchmal auch Tuschen, die
von unten etwas nach oben transportieren. Das Baumaterial für eine tuschetische Fast Food-Imbissbude etwa, man sollte bloß nicht denken, dass hier die Zeit vollends stehen geblieben ist. Als wir
die Baumgrenze erreichen, zeigen die Berge ihre wahre Größe. Grüne Riesen auch sie. Auf knapp 3000 Metern erreichen wir den Pass. Wer hätte gedacht, dass Tuschetien wirklich hinter den Bergen
liegt, abgeschnitten über sieben Monate im Jahr, ohne Strom bis heute. Zwar wachsen Strommasten hoch zum Pass, sogar bis auf die andere Seite, sie stehen dort seit Sowjettagen. Doch sie verrosten
seit den Neunzigern als nicht mal Tiflis Strom hatte. Die Kabel hat längst der Winter geholt. Unten am Fluss, wo einzelne Schneefelder sich noch über das Wasser wölben, machen wir Rast und laden
ein. Hauptsächlich um zusammen zu trinken. Die junge Familie mit den Imbissbudenplänen leistet uns Gesellschaft und der Gedenkstein für die zwei Verunglückten hier. Ihr junges Gesicht ist in den
schwarzen Stein eingraviert. Laut Gocha verunglücken hier meistens Fremde, die noch dazu betrunken waren. Ich bin mir da nicht so sicher, der Weg nach Tuschetien ist ein einziger
Geschicklichkeitsparcours.
Und dann erreichen wir die Gegend, bei deren Namen all die Georgier leuchtende Augen bekommen und die Tuschen weiter unten im Tal Heimweh. Offiziell ist es der Beginn des Nationalparks
Tuschetien, der sich seit einigen Jahren über das ganze Gebiet erstreckt, inoffiziell ist es der Eintritt in ein Märchenland. Jedes Stück Wiese ist hier ein dicht gepinseltes Gemälde, all die
Kräuter, Blumen und Gräser wachsen hier um die Wette, wilde Kamille und Fenchel oder die so himmelstürmende Kaukasische Bärenkralle, die auch bei uns blüht – aber erst seitdem der deutsche
Wissenschaftler Guldenstedt sie im 18. Jahrhundert nach Europa brachte. Es sieht verwunschen aus, geheimnisvoll, ein wenig so wie vielleicht die Alpen vor 200 Jahren mal waren. Und dann die
Häuser! Ein jedes ein Schichtkunstwerk, aus dünnen Schieferplatten geformt. Eigentlich bis hin zum Dach, doch die Moderne hat Blechdächer gebracht, was gar nicht schlecht aussieht, aus der Ferne
wie Silberrücken in Bergwiesen, aber den Steinwänden der Häuser fehlt nun der Druck von oben, der sie erst richtig stabil macht. Einzelne Risse sind schon zu sehen.
48 Dörfer gibt es hier, wobei Dorf größer klingt als die Ansammlung einer Handvoll Häuser wirklich ist. Sie schmiegen sich an die Hänge. Klein, maximal zweistöckig sind heute ihre Häuser – außer
einigen wenigen Ausreißern. Oft haben sie einen Holzbalkon, unserer in Jvelurta ist hübsch mit Schnitzereien verziert. Wer genauer hinguckt, erkennt Hammer und Sichel, aus der Zeit, in der hier
die Landwirtschaft verboten wurde, weil im großen Reich der kommunistischen Partei Tuschetien ausschließlich Viehzucht betreiben durfte, also Schafe, Kühe und Pferde halten. Ackerbau war verboten
und die Terrassenanlagen zerfielen schnell, auch weil nicht nur einige Tier hier grasten, sondern knapp eine Million. Es muss seltsam ausgesehen haben, denn auf den Almen hat es kein Gras mehr
gegeben, so viel Vieh wurde hier gehalten, und die Terrassen für den Ackerbau erkennt man nur noch mit großer Mühe in den steilen Hängen.
Getreide auf über 2000 Meter wirkt aber auch wie eine der großen Geschichten über Tuschetien, die Gocha so gerne erzählt. Etwa wenn er von den Bärenkräften seiner Landsleute berichtet, egal ob
sie mit ein paar Hundert Mann Ende des 17. Jahrhunderts gegen die feindliche Armee aus Dagistan kämpften (und natürlich gewannen) oder ob er selbst noch als Hirte gegen einen Bären kämpfte, nur
seine zwei Hunde treu an seiner Seite (und den Bären natürlich in die Flucht schlug). Aber tatsächlich fällt es nicht schwer, Gochas Worten zu glauben, hier, wo jeder Winter ein eisiger Feind ist
und allein schon der Alltag in der Abgeschiedenheit in unseren Augen einem Kampf gleicht. Was sind da schon ein paar Tausend Feinde oder gar ein Bär?
„Vor 25 Jahren lebten hier 30 Familien, jetzt sind es nur noch Samson und ich“, sagt Gogi, seine Augen unter der Schirmmütze mit dem amerikanischen Logo blicken etwas traurig. Aber vielleicht ist
es auch nur die Sonne, die ihn blendet. Er sitzt vor seinem Haus auf einer schlanken Bank, wie sie hier alle eine haben, die Holzbeine sehen aus wie halbe Sterne. Gogi schenkt uns heißes Wasser
für den Kaffee ein. Georgier sind gastfreundlich, für die Tuschen ist es bis heute vermutlich auch immer eine Art Lebensversicherung, sich hier oben gegenseitig zu helfen. Gogi ist 73 Jahre alt
und pensionierter Fischer, eigentlich lebt er in Alvani, doch jedes Jahr von Juni bis August ist er hier oben, Urlaub machen. Seit 25 Jahren hält er das so. Sein kleines Ferienhäuschen hat Gogi
selbst zusammengezimmert, natürlich, mit den dünnen Wänden aus Blech und Sperrholz sieht es aus wie eine Datsche, eingewachsen zwischen Wildblumen. An den schönsten zwei Orten hat der alte Mann
jeweils einen massiven Haken gehängt. Was wir als Konstruktion identifiziert hatten, um geschlachtete Tieren aufzuhängen, entpuppt sich als Halterung für den Boxsack seines Sohnes.
„Warum soll ich Nachrichten hören, wenn ich das hier habe“, sagt Samson und zeigt auf die zerklüftete Alm, wo seine Kühe grasen. 40 Tier hat der schüchterne Mann mit dem kurzen dichten Bart, 18
davon melkt er täglich, um aus der Milch Käse und Schmelzbutter zu machen. Samson ist der einzige Hirte, den Jvelurta noch hat. Seit 25 Jahren hält er hier seine Tier zwischen Mai und September,
begonnen hat er damit als Kind. Bessere Straßen wünscht Samson sich, das schon. Dieses Jahr war der Weg nach Tuschetien im Frühjahr 20 Tage länger gesperrt als sonst. Strom wäre auch nicht
schlecht, aber täglich neue Informationen braucht Samson nicht. Und sein Gehilfe, der junge Giorgi, auch nicht. Giorgi hat Tattoos an beiden Händen und Armen, dafür nicht mehr alle Zähne. Im
Winter arbeitet er als Hilfsarbeiter auf dem Bau unten in Alvani, aber lieber ist es ihm hier, das sieht man ihm an. Touristen? „Gibt es hier kaum“, sagt Samson. Dabei gäbe es einen wunderschönen
Wanderweg von hier über den Berg zu den Nachbardörfern im Iwanaurta Tal.
Touristen gibt es dafür in Omalo, dem größten Ort in ganz Tuschetien. Zwar nicht so viele wie hier Pferde auf sie warten, aber doch einige. Sichtbar ist das auch an all den Guesthouse-Schildern,
die sich unter die Giebel der neuen Häuser erwartungsvoll quetschen. „Alle wollen hier ein Gästehaus haben“, sagt Gocha, während er das älteste in ganz Omalo ansteuert. Nazo empfängt uns hinter
einem Gatter mit dem selbst geschriebenen Werbeschild „Fast Food“, umgeben von ihrem üppigen Gemüsegarten. Die Witwe wirkt deutlich älter als ihre 65 Jahre, nicht nur weil sie schwarz trägt. Das
Gästehaus hat sie mit ihrem Mann im Jahr 2001 eröffnete. Es ist klein, nicht so wie die drei Hotels, die für westliche Augen zwar immer noch fast zierlich wirken, aber im Vergleich zu dem, was
hier üblich ist, durchaus massiv sind. Nazo ist im Nachbartal geboren, in den Siebzigerjahren zog sie für ihren Mann hierher. Beide Töchter hat sie in Omalo bekommen, im Krankenhaus. Der Ort muss
damals fast etwas von einer Kreisstadt gehabt haben. Mit Kindergarten, Schule und einem Internat, einer Bibliothek und sogar einem Kino. Die soziale Infrastruktur funktionierte, 80 Familien
lebten das ganze Jahr über in Omalo. Die Zeit vermisst Noza trotzdem nicht. „Keiner durfte damals privat Geschäfte machen.“ Heute würden Touristen Geld bringen. „Vieles ist besser geworden“, sagt
Noza. Aber nicht alles. Durch die großen Hotels werde das Wasser auf dem Plateau regelmäßig knapp. Ein Abwassersystem gibt es bis heute hier nicht. Noza ist es hier oben trotzdem lieber als
im Tal, wo sie den Winter verbringt. „Ich bin neidisch auf die Berge, sie dürfen hier das ganze Jahr über sein.“
Tatsächlich hat der Nationalpark einige Regeln gebracht. Seit ein, zwei Jahren darf man nur noch authentisch bauen. Was das heißt, ist nicht ganz klar und vor allem: Was bedeutet authentisch in
einem Ort wie Omalo, wo kaum mehr ein Haus so aussieht, wie die Architektur früher hier mal war. In den Dörfern auf den Hügeln muss damals jedes Haus wie eine kleine schlanke Trutzburg gewirkt
haben. Wie das ausgesehen haben mag, erahnt man heute noch in dem winzigen Dorf Chachabo. Auch wenn viele Häuser in einem bemitleidenswert Zustand sind, ihr Mauerwerk franst nach oben aus wie
Zähne, nur noch der Rest von einem Balkon klebt daran, durch viele Wände ziehen sich tiefe Risse, die Mauern sind brüchig geworden.
Früher besaßen die Häuser hier dagegen drei bis vier Stockwerke, ganz unten lebten die Tiere, darüber die Menschen. Die Konstruktion aus den geschichteten flachen Schiefersteinen erinnert an
Häuser im Tessin, aber ihr wehrhafter Charakter, das turmartige in die Höhe gehen, dürfte einzigartig sein. Tuschen mussten sich verteidigen, gerade im Sommer, wenn der schmelzende Schnee die
Wege auch den Feinden aus Dagestan und Tschetschenien freigab. Das Verteidigen hat sich nicht nur in die Mythen der Tuschen eingeschrieben – keine Schlacht, die nicht gegen eine schier
aussichtslose Übermacht gewonnen wurde – sondern auch in ihre Architektur. Pro Wohnturm gibt es nur eine kleine gedrungene Tür, die Fenster sehen aus wie Schießscharten. Architektur wurde als
Verteidigungsmaßnahme verstanden. Das erklärt, warum die so hübsch geschnitzten Holzbalkone erst später gekommen sein können, wirken sie doch wie Strickleiter für die Feinde. Erst ab den
Dreißigerjahren sind sie an die Häuser gefügt worden. Von Handwerkern aus Westgeorgien, für eine Zeit, die weniger Gefahren kannte, aber auch weniger Freiheiten.
„Wie es im Winter ist? Natürlich grandios!“ sagt Irodi und ein Grübchen wird sichtbar, so sehr freut sich der 42-jährige Mann über den Gedanken an den Winter hier, wenn es wieder still wird,
„total still“. Irodi ist der einzige, der mit seinen Eltern im kleinen Dorf Schenako überwintert. Alle anderen verlassen ihre Steinhäuser. Nicht wie früher, um vom Sommerquartier ins
Winterquartier umzusiedeln. Jedes Dorf hatte solche zwei Standorte. Im Winter verließ man die Wohntürmen auf dem Hügel und zog um, auf sonnigere Wiesen, in Häuser, die nicht mehr so hoch waren
und auch nicht mehr so dicht beieinander standen, weil der Schnee die feindlichen Angreifer abhielt. Mit einer Mischung aus Lehm, Kuhdung und kleinen Steinchen sind die Winterhäuser sowohl innen
als auch außen verputzt. Wie warm eingepackt sehen sie aus.
Irodi ist Ranger beim Nationalpark Tuschetien. Dieser wurde im Jahr 2003 gegründet und ist bis heute einer der größten der Welt. Irodi kümmert sich darum, dass die Regeln von der Bevölkerung
eingehalten werden. Nicht wild Bäume fällen, fischen oder jagen und auch die Tiere dürfen nicht mehr überall grasen. Am Anfang, als Irodi vor 13 Jahren anfing, hatte er viel zu tun. „Aber langsam
versteht die Bevölkerung, um was es geht.“ Dafür fangen neue Probleme an. Das wilde Campen zum Beispiel. Im Nationalpark darf man nicht wie überall sonst in Georgien einfach sein Zelt irgendwo
aufschlagen. Doch immer mehr Besucher machen genau das und Feuer noch dazu. Erst gestern rief die Grenzpolizei bei Irodi an, weil wieder georgische Touristen wild im Wald campten und Feuer
machten. Außerdem wecken die steigenden Touristenzahlen Begierden. Gästehäuser werden ohne Genehmigung gebaut, Felder für neue Gebäude abgezäunt. „Traditionell durfte die Familie auf ihrem Grund
machen, was sie wollten“, sagt Irodi. Viele würden nicht verstehen, warum sich das geändert haben soll. Gerade die Entwicklung von Omalo, dem größten Ort in Tuschetien und Anlaufpunkt Nummer eins
aller Besucher, hält der Ranger für chaotisch. „Es gibt schwarze Löcher in den Gesetzen.“ Und sie werden ausgenützt. So schön Omalo heute ist, gerade mit der Burg Keselo, deren Wehrtürme
stolz in den Himmel ragen und seit dem 16. Jahrhunderten Eis und Schnee trotzen, so traurig wird man hier auch. Zu sicher ist man, dass die allzeit hungrige Gegenwart sich das alles unter den
Nagel reißen wird. Mit noch größeren Hotels und besserem Komfort. Mit Restaurants, deren Fast Food-Schilder nicht mehr handgepinselt sind. Im eigenen Kopf wird bereits die Fast Forward-Taste
gedrückt, denn die ersten Anzeichen sind nicht zu übersehen. Die hohe Zahl der Gästehäuser in Omalo, die überquellenden Mülltonnen am Straßenrand, die Gebäude, deren Besitzer größere Augen hatten
als Verstand.
Doch das wichtigste überhaupt hat nichts mit Gesetzen zu tun. „Wir brauchen eine Kläranlage“, sagt der Ranger. Einen Nationalpark zu schaffen und den Tourismus zu fördern, aber keinen Gedanken an
das Abwasser zu verlieren, klingt wie ein Widerspruch, doch genau das ist in Tuschetien der Fall. Ob Irodi Hoffnung hat, das eine Kläranlage bald kommen wird? „Nein“, kurzes Kopfschütteln, sein
Grübchen ist längst verschwunden. Die Regierung achte nicht auf das, was wirklich wichtig sei. Kläranlage, Müllabfuhr, auch bessere Straßen, damit die Fahrer nicht ständig neue Wege für sich
finden würde, womit sie für Erosion sorgen. „Mit dem Tempo, in dem Dinge jetzt in Georgien passiert, sehe ich nichts Gutes für Tuschetien“, sagt Irodi. Er versucht dagegen zu steuern. Zum
Beispiel mit traditioneller Architektur. Auch seine Eltern führen ein Gästehaus, gerade wird es um ein kleines Gebäude erweitert – mit Schiefersteinen und einem geschnitztem Holzbalkon. Die
Dimension des Neubaus passt zu Schenko, wo erstaunlich viele alte Häuser relativ gut erhalten sind. Warum sich Irodi und seine Eltern an die Regeln der traditionellen Architektur halten? „Ich bin
hier aufgewachsen, das ist mein Land. Ich bin hier nicht nur für Sommerferien.“
Nicht viele halten es so wie Irodi und seine Familie. In Diklo etwa, einem Dorf weiter hinten im Tal mit atemberaubendem Blick auf das Gebirge. Die Grenze zu Dagestan liegt hinter den Gipfeln,
üppige Blumenwiesen liegen davor. Warum sollte man hier nicht glauben, dass man im Paradies sei? Doch zwischen den traditionellen Häusern, steht ein Gebäude so groß und protzig als wäre es von
einem anderen Ort hierher gepflanzt worden. Unter seinem Satteldach könnte vermutlich halb Diklo Unterschlupf finden. Auf einem Balkon mit gedrechseltem, nicht geschnitztem Geländer sitzt eine
alte Frau. Sie sieht nicht wirklich glücklich aus, aber vielleicht bildet man sich das auch nur ein. Wirkt das ganze Ensemble doch als wollte es sich gegen feindliche Angriffe wappnen: eine
Betonmauer zieht sich um das komplette Gebäude. Gocha wird wütend, wenn er so etwas sieht. Ein Haus ohne Achtung für den Ort, wo es steht, die Menschen, die dort leben, die Natur, die sich darum
ausbreitet. Doch warum hat der Besitzer so rücksichtslos gebaut? Das Geld dafür verdiente er durch seine private Fluglinie. Hat ihn das vergessen lassen, woher er kommt? Oder will er einfach
seinen persönlichen Wohlstand ausdrücken, mit dem Komfort dieses Hauses und seiner Größe? Und wer ist man, darüber zu richten, was gut ist und was schlecht?
Überall auf der Welt wird der örtliche Maßstab gesprengt und die traditionellen Bauweisen vergessen. Der Ort wird seiner Seele beraubt, mit fatalen Folgen für die Natur. Doch wie sich entwickeln,
ohne zu zerstören, was einen besonders macht? Tuschetien hat da noch keine Antwort darauf gefunden, zumindest keine, die glücklich macht. Der Rest der Welt aber auch nicht.
Nur das Rauschen des Wassers und das Zirpen der Grillen sind zu hören. Hier oben, wo unsere Unterkunft, das Haus des Hirtens und ansonsten nur noch die Ruinen von Kvavlo stehen. So dicht drängen
sich die alten Wohntürme des Dorfes zusammen, dass sich manche eine Schiefermauer teilen. Das Gelände ringsum fällt beängstigend steil ab, Hochhausschluchten a la Tuschetien. Doch von Kvavlo
steht nicht mehr viel, den meisten Häusern fehlt das Dach. Ein, bis zwei Mal muss ein altes Steindach kontrolliert werden, müssen Steine ersetzt und Lücken ausgebessert werden. Wer das weiß,
staunt darüber, wie viele Häuser überhaupt noch halbwegs intakt sind. Zum Teil leben ihre Bewohner schon seit Jahren nicht mehr hier, emigriert nach Amerika, Irland, Griechenland, Italien,
Russland, Türkei. Die Liste ist lang, heute leben 1,5 Millionen Georgier im Ausland.
Und warum auch nicht? So beglückend schön es hier oben ist, so beschwerlich ist es auch, selbst in den Sommermonaten. Alles muss aus Kachetien hoch transportiert werden. Das meiste Obst und
Gemüse, alles andere sowieso. Vermutlich hat der beschwerliche Weg nach Tuschetien die Region vor vielem bewahrt, was man heute in den Alpen studieren kann. Skiliftanlagen zum Beispiel,
Hotelburgen. Doch die Straßen werden besser werden. Ist das dann gut oder schlecht? Kein Ort lässt sich unter eine gigantischen Glaskuppel stecken, so wie sich das vor Jahrzehnten der Architekt
Buckminster Fuller mal für New York ausgedacht hat. Er wollte damit das Wetter kontrollieren, Gott spielen. Darf man das? Heute, wo im Zeitalter des Anthropozäns täglich Arten aussterben, Tiere
und Pflanzen, die Gegenwart ist da nicht wählerisch. Genauso wie traditionelle Bauweisen verschwinden, die sich über die Jahrhunderte an das Klima und die kulturellen Gewohnheiten ihrer Bewohner
angepasst hat. Mit fatale Folgen für die Umwelt. Kein Schutzschild, egal wie groß, wird das verhindern können.
„Die Touristen können nicht viel zerstören, sie sind ja nur zwei bis drei Monate im Jahr hier oben“, sagt Tamro im Dorf unterhalb von Kvevlo. Die 28-Jährige ist die einzige Rangerin unter 35
Kollegen. Anders als Irodi ist die studierte Kaukasiologin dafür zuständig, Flora und Fauna im Nationalpark zu studieren und Veränderungen zu dokumentieren. Wie sie die Entwicklung einschätzt?
„Die Natur kann sich schützen und auch regenerieren“, sagt Tamro. Etwa der kaukasische Hirsch. Eigentlich dachte man, er wäre ausgestorben, doch vor einigen Jahren wurde er hier plötzlich wieder
gesichtet. Oder der Befall der Fichten durch Würmer. Ein richtig kalter Winter machte den Parasiten ein Ende, die Kälte tötete die Wurmeier unter der Rinde ab. Doch der Klimawandel
verschont auch Tuschetien nicht. „Unsere Gletscher schmelzen und es gibt insgesamt weniger Wasser“, sagt Tamro und trinkt einen Schluck von dem Tee, für den sie die Kräuter aus ihrem kleinen
Garten gepflückt hat. Mit den Eltern führt die Rangerin ein Gästehaus in Dartlo. Eine zierliche Girlande aus Baumzapfen schmückt den Eingang zum Garten. Tamros Haus ist sorgfältig saniert – so
wie fast alle Gebäude in diesem Ort. Die Instandsetzung war ein Vorzeigeprojekt, 2017 wurde man damit fertig. Ein Bauingenieur aus Omalo hat sie fachkundig durchgeführt und auch wenn viele
Häuser leer stehen, hat es etwas Befriedigendes auch einmal durch ein derart intaktes Dorf zu spazieren, mit Häusern, deren Mauern nicht kariös zerfressen sind und Holzbalkonen, bei deren Anblick
man nicht sofort Angst bekommt, sie würden im nächsten Moment einstürzen. Tamro, die sechs Monate im Jahr hier oben wohnt und die andere Zeit im Tal ihre Ergebnisse auswertet, schätzt Dartlos
Sanierung. Auch wenn sie bedeutet hat, dass ihr Vater nun keine Tiere hier mehr halten darf. Mit einer Kläranlage und einer Müllabfuhr, die wöchentlich kommt, ist Dartlo ein Vorbild, auch wenn
die Ortschaft etwas von einem Museumsdorf hat.
Von Girevi kann man das nicht behaupten. Zwar faltet sich das Gebirge hier besonders atemberaubend in die Höhe, egal in welche Richtung man im Birikiti-Tal auch blickt. Grüne Riesen, unberührt,
ganz bei sich in ihrer Schönheit. Außerdem spielen die Tuschen hier ein bisschen Cowboy. Junge Männer fetzen auf schlanken Pferden über die Hänge, treiben die Schafe zum Scheren oder die Kühe zum
Melken. Gerade die Bewegung der Schafsherden über das satte Grün der Almen hat etwas von einem Spiel. Und trotzdem: Girevi ist auch atemberaubend hässlich. Häuser zusammengenagelt aus Blech,
Sperrholzplatten und Gipspappe. Die zahlreichen Hostels, die hier auf die vielen Bergwanderer in Richtung Atsunta Pass warten, sind zwar oft aus Holz, aber nicht weniger geschmacklos. Von hier
aus sieht man weiter hinten im Tal das Dorf Hegho mit seiner herrschaftlichen Burg. Eine von Gotchas geliebten Heldentaten rankt sich um Hegho. Mit Tapferkeit und Todesmut hatte hier ein
Tusche seine Familie bis zum grausamen Ende verteidigt. Etwas mehr Heimatstolz würde auch den Bauten von Girevi nicht schlecht stehen.
Wer in Tuschetien nicht trinken will, muss eine gute Ausrede parat haben. Auch morgens um 10 Uhr. Oder einfach mittrinken, zur Not auch gleich den klaren Chacha. Einladen und teilen, was man hat,
gehört hier einfach dazu. Auch mit Fremden, die kein Wort Georgisch können. Denn Gocha ist längst bei den Männern, oben bei dem heiligen Ort, wo Frauen nicht hin dürfen. Wie winzige, gedrungene
Häuschen sehen diese Chati aus, gebaut aus Schiefersteinen und mit diesem hübsch abgetreppten Dach wie es auch die Wehrtürme aus dem 16. Jahrhundert haben. Ein Ort kann mehrerer Chati besitzen,
jeder ist einem der Schutzheiligen des Dorfes gewidmet. Heute sind sie oft eingezäunt, manchmal weisen auch selbst gemalte Schilder darauf hin, dass Frauen hier unerwünscht sind. Touristen haben
kein Gespür für heilige Orte – und Tuschen nicht unbedingt für die Genderdebatte.
In Parsma sitzen die Frauen weiter unten, an der Rückseite eines alten Hauses. Es sind ganz Junge dabei und etwas Ältere, viele in bunte Fliesjacken gekleidet, ihre Füße stecken in
Plastikschlappen. Den Schnaps haben sie in eine alte Limonadenflasche gefüllt. Dazu gibt es warme Khachapuri aus großen Blechtöpfen, geschnittenes Obst und Süßigkeiten. Der Blick übers Dorf mit
den alten Steinhäusern, den grasenden Pferden und den Gipfeln, die sich über das Pirikiti Tal aufbauen, ist berauschend schön, auch ohne Chacha, dafür mit tuschetischen Liebesliedern und
begleitet von einer Panduri. Die sanfte Musik scheint die Sanftheit der Landschaft zu reflektiert, da ist nichts Hartes, Furchteinflößendes, obwohl man sich weit über 2000 Metern befindet. Eine
junge Frau spielt das Zupfinstrument mit Inbrunst. Unten in Alvani arbeitet sie als Lehrerin – wenn man sie richtig verstanden hat – nach Parsma ist sie gekommen, um hier oben mit ihrer Familie
das große Fest vorzubereiten. Jedes Jahr im Sommer werden ein bis zwei Familien ausgewählt, um Gastgeber für ein ganze Dorf zu sein und zwar für ein Fest, das mehrere Tage dauert. Wie viele
Personen da kommen und wann genau? Typisch deutsche Fragen.
Genau wie die nach der Bezahlung. „Hier geht es nicht um Geld, es geht hier um die Menschen“, sagt Irakli und muss lächeln, so sehr hat ihn die Frage amüsiert, ob seine Patienten auch für die
Behandlung zahlen. Irakli ist 78 Jahre alt und der einzige Arzt in ganz Tuschetien, der das komplette Jahr über hier lebt. Sein Ururgroßvater war der erste Priester von Bochorna, auf 2300 Metern
das höchste Dorf Europas - zumindest verkündet das stolz die Informationstafel weiter unten. Dabei dürfte Russland noch viel dafür tun, dass dies nicht so bald der Fall sein wird und Europa
der Traum vieler Georgier bleibt. Seitdem Irakli 1976 sein Medizinstudium in Tiflis abgeschlossen hat, arbeitete er immer wieder als Arzt in Tuschetien. Seit zehn Jahren lebt er vollständig hier,
im Haus von Bekannten. Sein eigenes baut er gerade. Davor grast „mein Notfall-Pferd“, ein edler Schimmel mit freundlichen Augen, Irakli besitzt kein Auto. „Wenn der Schnee bis zum Knie hoch
liegt, kann ich noch reiten, danach muss ich zu Fuß gehen“, sagt Irakli und man glaubt ihm sofort, sieht er mit seinem silberweißen Haar und dem braun gebrannten Gesicht doch eher aus wie einer
dieser durchtrainierten Senioren, die ihren Ruhestand überwiegend mit Sport verbringen. Doch mit Pension ist bei Irakli nicht viel her – und das sicherlich nicht, weil er von den 200 Lari Rente
im Monat, die er bekommt, gar nicht leben könnte. Stolz führt Irakli uns seine Arzttasche vor, eine Konstruktion aus grünem reißfestem Stoff, die sowohl sein Pferd als auch er selbst über der
Schulter tragen kann und die Platz für Iraklis „chirurgische Tasche“ und für seine „Behandlungstasche“ hat, ein deutsches Fabrikat mit rotem Kreuz, entwickelt im Krieg und in Iraklis
Besitzt seit 1984. Während er noch davon schwärmt – „Einfach grandios!“ – klingelt sein kleines Nokia-Handy und ein Schäfer ruft an, ihn plage noch immer sein Bandscheibenvorfall. Irakli ist
zuständig für die Erstversorgung und leichtere Fälle, aber auch im Winter, wenn das Wetter so schlecht ist, dass der Hubschrauber nicht landen kann. Ansonsten gibt es seit einigen Jahren
zumindest den Sommer über einen Rettungsdienst in Omalo.
„Wir haben hier keine Lebensqualität“, sagt Irakli und man muss nachfragen, was das bedeutet, weil man das erst einmal nicht versteht. Hier auf dem geschnitzten Holzbalkon, mit Blick auf Berge,
so schön, dass man es kaum glauben mag. Tiefgrüne Wälder rasen über ihre Kuppen und auf den Almen konkurrieren die Farben der Wildblumen miteinander. Aber eigentlich ist es klar. Die Straßen sind
so schlecht, dass es nicht mal Chacha braucht, um hier in einer Schlucht zu landen. Viele Dörfer sind sogar von diesen Straßen abgeschnitten, weil keine Brücke über den Fluss führt, wie etwa im
Gometsari Tal, wo gleich mehrere Dörfer kaum zu erreichen sind. Den Strom produzieren sich die Bewohner selber, über Solaranlagen oder Generatoren. „Wenn es so weiter geht, hat Tuschetien keine
Chance sich zu entwickeln“, sagt Irakli und bewegt seine erstaunlich großen Hände als würde er schwungvoll Würfel auf den Tisch knallen. „Die Regierung hat keine Vision für dieses Land.“
Entmutigen lässt sich Irakli trotzdem nicht. Das zeigt der Bau seines Hauses für sich und seine zwei Söhne, die ihn mit ihren Familien hier oben besuchen. Das zeigen aber auch Iraklis selbst
gebaute Ski. McGyver wäre neidisch darauf: zwei Holzbretter, eine Bindung aus breiten Stricken und eine Art Schlappe an jeder Spitze, damit die Ski nicht zu tief in den Schnee sinken. Dazu zwei
Holzstecken, an deren Ende er mit Gaffer Tape jeweils eine Plastikflasche geklebt hat. „Bevor es los geht, schmiere ich meine Ski noch mit Schafsfett ein“, sagt Irakli und lächelt vergnügt. Das
Leben ist schön, Qualität hin oder her.
Man gewöhnt sich nicht an die Straßen in Tuschetien. Auf gar keinen Fall. „Ein Pfad fürs Auto“ hatte sie Gocha genannt, man könnte auch sagen: Schotterpisten to hell. Aber was bedeutet es, eine
ganze Gegend so von der Außenwelt abgeschnitten zu lassen? Jedes Schlagloch ein „Schaut, wie ihr selbst zurecht kommt!“ Jede fehlende Brück ein „Ist uns doch egal, wie ihr eure Häuser erreicht!“
Genauso wie die Sache mit dem Strom. Eigentlich bekommen in ganz Georgien Haushalte, die nicht ans Stromnetz angeschlossen sind, eine Solaranlage vom Staat, damit sie für das nötigste Strom
haben, für Waschmaschine, Kühlschrank, die Errungenschaften der Zivilisation. In Tuschetien hat keiner etwas bekommen. Oder das Handynetz: Nur 20 der insgesamt 48 Dörfer in Tuschetien haben
Handyempfang. „Ohne Verbindung nach draußen will keiner mehr dort wohnen“, hatte Irakli, der 78-jährige Arzt gesagt. Es wirkt, als würde es die georgische Regierung genau darauf anlegen.
Doch gleichzeitig will sie den Tourismus in Tuschetien fördern und erlaubt Hotelneubauten, die in gewisser Weise ähnliche Fremdkörper sind wie die Riesenarchitekturen in Tiflis, die
funktionslosen Röhren mitten im Zentrum etwa oder die Bauten oberhalb der Hauptstadt.
Die neuen Hotels rund um Omalo sind viel zu massiv für die filigrane Landschaft Tuschetiens. An die gewöhnt man sich auch nicht. All die Tage staunt man über eine Zauberwelt, deren Berge, egal
wie hoch sie steigen, nichts von ihrer Sanftheit verlieren. Als wäre jeder einzelne von ihnen in ein samtenes grünes Tuch eingeschlagen. Der Kopf sucht nach Vergleichen, Irland fällt einem ein
und die schottischen Highlands. Vielleicht auch Wallis und Graubünden in der Schweiz. Oder „ genau wie bei uns, nur ohne Lifte“ wie der Österreicher aus dem Salzbuger Land gesagt hat. Aber das
passt alles nicht. Es ist eine einzigartige Kulturlandschaft dort oben im Großkaukasus. Die Natur genauso wie die Dörfer mit ihren kriegerischen Wohntürmen. In jeder Dorfanlage lässt sich das
Zusammenstehen der Bewohner gegen die Bedrohung von außen an der Architektur ablesen, gegen die Krieger aus Tschetschenien und Daghestan, die vermutlich ähnlich gute Kämpfer waren wie die
Tuschen. Aber auch die Jahreszeiten sind hier sichtbar. Im Sommer sind die Ortschaften vollständig anders konzipiert als im Winter, wo die Gebäude weit voneinander entfernt stehen. Auch die
Häuser unterscheiden sich, für den Schnee wurden sie dick eingepackt, sind kleiner, gedrungener, jede Familie war dann mehr für sich. Was für ein Unterschied zu unserer allzeit auf 21 Grad
temperierten Gegenwartsarchitektur! Sie lässt den Menschen vergessen in welcher Jahreszeit er sich befindet, ob es draußen heiß ist oder kalt, aber auch an welchem Ort dieser Welt er sich gerade
aufhält.
In Tuschetien ist das anders. Und deswegen versteht man jetzt, wo man wieder unten in Alvani ist, die Höllenfahrt über den Torgva Pass hinter sich gebracht hat, sogar für die flatternden
Nerven ein Schwefelbad auf knapp 2000 Meter genommen hat und abends voller Inbrunst auf unseren Fahrer Gocha anstößt, warum die Tuschen hier unten ihre Heimat dort oben so lieben. Warum ihre
Augen sehnsüchtig werden, wenn sie davon erzählen, und Gochas Mutter mit jedem Tropfen, den ihr Gartenschlauch hergibt, die Zierblumen wässert, die Geranien und Rosen, so als wollte sie in Alvani
zumindest auch eine Ahnung von den farbenprächtigen Almwiesen der Berge produzieren. Warum hier, wo die Kleidung sofort wieder am Körper klebt, weil der warme Wind ungebremst aus Mittelasien
kommt, das Begehren nach der Kühle auf den Bergen erwacht. Und warum die Architektur Tuschetiens mit ihren so märchenhaften Bauten aus silbern glänzenden Schieferstein hier unten, wo die
Gegenwart keine Regeln und vor allem keinen Geschmack zu kennen scheint, wie ein Wunder wirkt. Diese Architektur passt zur Natur dort oben, aber ansonsten zu nicht viel anderem, so atemberaubend
schön ist sie.
Die Welt hat Tuschetien nicht verdient, aber die Tuschen die Welt.